Was ist Mathematik? - Versuch einer Annäherung
Viele Menschen haben eine verzerrte Vorstellung von Mathematik, weil sie aus der Schule belastende Erinnerungen an Auswendiglernen und sture Rechnerei haben. Von dem Mathematiker in Praxis und Wissenschaft wird hingegen etwas anderes erwartet. Seine Tätigkeit läßt sich am ehesten mit "Analysieren von Strukturen" und "Entwickeln adäquater Modelle", die es dann erlauben, komplexe Probleme (z.B. auch durch Einsatz von Computern) zu lösen, umschreiben. Dazu haben die Mathematiker eine Sprache entwickelt (und diese entwickelt sich ständig weiter), mit deren Hilfe Sachverhalte unzweideutig beschrieben werden; sie ist einerseits flexibler und komplexer als eine Programmiersprache. Andererseits vermeidet sie es im Gegensatz zur menschlichen Sprache, über verschwommene Dinge zu sprechen. Auf diese Weise versucht der Mathematiker, Probleme auf ihren prinzipiellen Kern zu reduzieren. Die Stärken der Mathematik und damit des Mathematikers sind Universalität und Flexibilität. Der Studienanfänger hat es - bei der heute doch häufig sehr oberflächlichen Schulausbildung - in der Regel schwer, sich an diese Präzision zu gewöhnen. Er ist auch überrascht, dass ihm von Anfang an eine "aktive" Auseinandersetzung mit der Mathematik abverlangt wird. Manch ein Studienanfänger mag sich sagen "Ich schaue mir das einmal an" und setzt sich beobachtend in den Hörsaal. Unsere Erfahrung ist, dass dieses abwartende Verhalten die Gefahr des Scheiterns in sich birgt. So wie man im Sport nur durch aktives Training erfolgreich sein kann, so besteht das Mathematikstudium zum großen Teil aus selbständigem mathematischen Arbeiten. Sagen Sie jetzt "Das ist ganz schön anstrengend". Ja, wir stimmen dem zu. Aber wir haben auch 1000fach erlebt, welche Freude es bereitet, wenn man einen grundlegenden mathematischen Begriff wirklich verstanden hat und auf dieser Basis dann Probleme zu lösen im Stande ist.
Oft sind es auch die überraschenden Querverbindungen, die den Reiz der Mathematik ausmachen. Eine solche überraschende Querverbindung soll anhand eines Beispiels näher beleuchtet werden.
Die Radon-Transformation: Zu Beginn des letzten Jahrhunderts beschäftigte sich der tschechische Mathematiker Johann Radon (1887-1956) mit einer auf den ersten Blick praxisfern erscheinenden Frage: gegeben sei eine Funktion f. Angenommen wir kennen längs jeder Geraden G das Integral von f über G. Können wir daraus auf die Funktion f zurückschließen? Die mathematische Antwort, die Radon gab, ist heute unter dem Begriff Radon-Transformation bekannt. Sie ist die theoretische Grundlage des modernen Computer-Tomographen.
Grob gesagt, schickt der Computer-Tomograph aus allen Richtungen Röntgenstrahlen durch den Körper und misst die Intensität der austretenden Strahlen. Das Resultat ist im wesentlichen das Integral der Massedichte über alle Geraden. Mittels einer numerischen Variante der Radon-Transformation kann man nun auf die Masseverteilung schließen und damit die Struktur des Körperinneren auf dem Computerbildschirm sichtbar machen.
(J. Radon: Über die Bestimmung von Funktionen durch ihre Integralwerte längs gewisser Mannigfaltigkeiten. Ber. Verh. Sächs. Akad. Wiss. Leipzig, Math. Nat. kl. 69 (1917), 262-277 nachgedruckt in P. Gruber et al. (Ed.) Radon, Johann: Gesammelte Abhandlungen. Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien; Birkhäuser, 1987.)
Dieses Beispiel ist in mehrfacher Hinsicht lehrreich. Radon dachte nicht im entferntesten an den Computer-Tomographen. Er hatte vielmehr eine innermathematische Motivation zur Betrachtung des Problems. Dass eine zunächst praxisfern anmutende mathematische Fragestellung mehr als ein halbes Jahrhundert später eine höchst nützliche Anwendung findet, dies ist ein wunderbares Beispiel gegen eine weit verbreitete Betrachtung der Wissenschaft unter kurzfristigen Kosten/Nutzen-Erwägungen. Ebenso zeigt dieses Beispiel, dass es mitunter müßig ist, zwischen "reiner" und "angewandter" Mathematik unterscheiden zu wollen. Etwas spitz könnte man auch sagen, dass es nur "gute" und "schlechte" Mathematik gibt. Umgekehrt kann man aber auch sagen, dass viele berühmte Mathematiker ihre Motivation immer wieder aus ganz konkreten Problemstellungen geschöpft haben.
Von der theoretischen Radon-Transformation zu einer Umsetzung im Computer war es noch ein weiter Weg. Ein ganzer Zweig der Mathematik, die Numerik, beschäftigt sich mit der konkreten Umsetzung von theoretischen Ergebnissen. Ein unverzichtbares Werkzeug ist dabei heute der Computer.
A. M. Cormack und G. N. Houndsfield wurden für die Einführung der Computer-Tomographie in der Medizin im Jahre 1979 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Für Mathematik gibt es bekanntlich keinen Nobelpreis, dafür aber die Fields-Medaille und den Abelpreis.
Aus Anlass des neuen Jahrtausends hat ein Expertengremium am Clay Mathematics Institute (USA) sieben Millenium-Probleme ausgewählt, die sich mit grundlegenden Fragen der Mathematik beschäftigen und sich seit längerer Zeit einer Lösung widersetzen. Diese Probleme zeigen, daß sich - entgegen einer weit verbreiteten Meinung - viele grundlegende mathematische Probleme nicht mit noch so leistungsfähigen Computern lösen lassen, sondern nur mit menschlicher Kreativität. Drei dieser Probleme werden hier anschaulich erläutert. Informationen zu aktuellen Entwicklungen, z.B. über den Beweis der Poincaré-Vermutung, finden Sie hier.
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